Das Ketzerweib

Bild von Buchumschlag das Ketzerweib

Das Ketzerweib, Buchumschag von Stefan Bundi, Cosmos Verlag 2017.

Werner Rysers Roman Das Ketzerweib schildert das Leben der Anna Jacob im bernischen Emmental lebensnah und beschreibt das historische Umfeld präzise und detailreich. Das Leben zu Anfang des 17. Jahrhunderts war hart, den Menschen waren enge Grenzen gesetzt. Ueli Jacob, Annas Mann, gehört der Täuferbewegung an. Aufgrund seines Glaubens nimmt ihn die Obrigkeit fest und verurteilt ihn zur Galeerenstrafe auf Lebzeit. Nur dank Hilfe eines Nachbarbauern, dessen Groll auf «die da oben» vom Bauernaufstand herrührt, können Anna und ihre Familie überleben. Vom Ortspfarrer missbraucht, beginnt Anna Jacob auf subtile Art, sich dem Prädikanten und den gnädigen Herren zu widersetzen.

Sie wird 1693 von den Täuferjägern gefangen und ins Schloss Trachselwald gebracht.[1]

Ein ungewohntes Geräusch liess sie hochschrecken. Vergeblich suchte ihr Arm Ueli, an dessen Brust sie eingeschlafen war. Kein frühes Morgenlicht drang wie sonst in ihr Zimmer. War es noch Nacht? Verwirrt starrte sie in die Düsternis, die sie umfing. Dann fiel es ihr wieder ein. Ueli, wenn er überhaupt noch lebte, schmachtete in Ketten auf einer Galeere auf dem weiten Meer und sie lag nicht im breiten Ehebett, sondern im Kerker auf Schloss Trachselwald. Sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Mit der Erinnerung an ihre Festnahme meldete sich auch wieder der Schmerz, der ihren Rücken durchflutete.

Das Geräusch, das sie geweckt hatte, stammte von der eisernen Klappe, mit der eine Luke in der Tür geöffnet wurde. Eine Hand war zu erkennen, die einen Krug und einen kleinen Laib Brot in die Öffnung stellte. «Nimm, trink und iss», sagte eine gleichgültige Frauenstimme. «Brot und Wasser ist alles, was Ketzer in den ersten sieben Tagen im Mörderchäschtli erhalten.» Das Licht erlosch. Anna hörte Schritte, die sich entfernten.

Mörderchäschtli. Das Wort lastete auf ihrer Seele. Mörderkasten nannte man im Tal die engen Verliese auf Schloss Trachselwald, in denen Verbrecher den Tag ihrer Hinrichtung erwarteten. Aber sie hatte niemanden umgebracht hatte keinem Menschen etwas zuleide getan. Sie war hier, weil sie, genauso wie ihr Mann, zur Gemeinschaft der Täufer gehörte.

Die Frau, die ihr Brot und Wasser gebracht hatte, war Beth Wüthrich, das Weib des Büttels, der sie verprügelt und hierhergeschleppt hatte. Beth und Balz Wüthrich wurden im Tal verachtet. Niemand wollte mit ihnen zu tun haben. Sie hatten sich an die Obrigkeit verkauft. Ihr Handwerk galt als unehrlich. Und nun war sie, Anna Jacob, den beiden ausgeliefert. Auf Gedeih und Verderb.[2]


[1] Nach Franz Osswald: Die Reformation frisst ihre Kinder, in: reformiert. Juli 2017.​​​​​
[2] Werner Ryser, Das Ketzerweib, Cosmos Verlag 2017, S.35.